Der Kleine Prinz: Die Farbe der untergehenden Sonne

XXVIII
Es war nichts als ein gelber Blitz bei seinem Knöchel. Er blieb einen Augenblick reglos. Er schrie nicht. Er fiel sachte, wie ein Blatt fällt. Ohne das leiseste Geräusch fiel er in den Sand …
Für einen kurzen Moment pulsierte das süße Gift der Schlange wie Mondlicht in den Adern des kleinen Prinzen. Dann verließ er seinen alten Körper in einer Wolke aus Dunst – wie Staub, wenn man ein Buch zuschlägt. Auch wenn er seine Hülle alt und leer zurückgelassen hatte, war er doch noch ganz bei sich. Die süße Schwere des Giftes trübte seinen Blick und ließ ihn benommen sein, während er durch die Stille des Nachthimmels raste. Er flog und um ihn tanzten hundert und aberhunderte von Sternen. Sie strahlten wie Kerzen vor einer tiefen Leinwand aus Dunkelheit. Und jeder von ihnen war ihm ein Brunnen in der Wüste.
Der kleine Prinz flog auch an den Planeten vorbei, die er am Anfang seiner Reise besucht hatte. Er passierte den Geographen mit seinen riesigen Wälzern, die kein Wort über die wichtigen Dinge verloren, den pflichtbewussten Laternenanzünder, den Geschäftsmann, der behauptet, die Sterne zu besitzen, den Trinker, der trinkt um seine Trinksucht zu vergessen, den Eitlen, der im Prinzen nur einen Bewunderer sah und schließlich den König, der wohl der Welt und allen Sternen ein Herrscher sei. Sie waren alle einsam, das wusste der kleine Prinz und es machte ihn traurig. Denn er wusste, dass die Sterne nicht dem König und auch nicht dem Geschäftsmann gehörten, sondern ihm und dem Fuchs und dem Piloten. Sie alle hatten Sterne, wie sie niemand hat. Der kleine Prinz konnte ihnen nicht helfen, doch sein Mitgefühl war groß und er wünschte sich, ihr Leid verwandeln zu können. Er verachtete sie nicht für das, was sie waren und so schenkte er ihnen im Vorbeifliegen sein Lächeln. Und vielleicht, aber nur vielleicht schaute einer von ihnen auf und sah es.
Und vielleicht pflanzte es in einem ihrer Herzen eine Saat, die es ihnen irgendwann möglich machen würde, die Sterne wahrhaftig zu sehen.
Dann sah der kleine Prinz in der Ferne seinen Asteroiden und je näher er kam, desto banger und banger wurde ihm ums Herz. Die Affenbrotbaum-Sprösslinge waren zu gewaltigen Affenbrotbäumen herangewachsen und bedeckten die gesamte Oberfläche seines kleinen Planeten. Ihre Wurzeln waren so tief in den Grund gewachsen, dass der kleine Prinz Angst hatte, sie würden den Planeten sprengen. Hoffentlich waren sie noch nicht zu groß, um beseitigt zu werden.

„Meine Rose?“
Sie antwortete ihm nicht. Wahrscheinlich konnte sie ihn durch das dichte Gehölz der Affenbrotbäume nicht hören. So machte er sich an die Arbeit, wollte er doch, dass, wenn er seine Blume wiedersah, sein Planet so schön wie möglich für sie hergerichtet war. Also suchte er seinen alten Spaten und begann damit, sorgfältig die Wurzeln der gefährlichen Bäume auszugraben. Die Arbeit war mühselig und er arbeitete fast ein Jahr hindurch. Auf seinem kleinen Planeten ist dies wahrlich weniger Zeit als es den Anschein erweckt, mühsam war es allemal. Doch für seine Rose nahm er die Arbeit gern in Kauf.
Dann schließlich, als der Asteroid von den Bäumen befreit war, fand er sie. Da war die Glasglocke, unter der er seine Blume zurückgelassen hatte. Doch sie war ganz von Staub bedeckt, der keinen Blick ins Innere zuließ. Er kniete sich hinunter und wischte mit seinem Finger über das Glas, sodass ein kleiner Spalt Einsicht gewährte. Da blitze ihm das Samtrot ihrer Blüten entgegen.
„Meine liebe Rose, ich bin zurückgekehrt.“, sagte der kleine Prinz, als er den Glassturz von ihr abnahm. „Ich liebe dich. Ich habe dich in meinen Sternen gesehen.“
Doch als er unter die Glocke sah, war es für ihn, als wären plötzlich alle Sterne ausgelöscht. Seine Rose war verdorrt.
Ungläubig erstarrt ließ der kleine Prinz den Glassturz zu Boden fallen, wo er zerbarst wie sein Herz. Über ihm senkte sich die Sonne hinab zum Horizont. Weinend setzte er sich auf und schaute mit geschnürter Brust ins Abendlicht. Beinahe hätte er die Lieblichkeit der Sonnenuntergänge vergessen. Wenn man recht traurig ist, liebt man die Sonnenuntergänge. Und er liebte sie mit seinem ganzen gebrochenen Herzen.
„Ich habe dich gezähmt.“, weinte er, „und nun bist du verdorrt, obwohl ich dich liebe. Obwohl ich dich liebe, habe ich dich verdorren lassen. Und nun weine ich. So habe ich nichts gewonnen.“
Doch als die Sonne sich in ihren letzten Momenten samtrot färbte, erinnerte sich der kleine Prinz an die Worte des Fuchses.
„So hast du nichts gewonnen!“
„Ich habe“, sagte der Fuchs, „die Farbe des Weizens gewonnen.“
Dann fügte er hinzu:
„Geh die Rosen wieder anschauen. Du wirst begreifen, dass die deine einzig ist in der Welt.“
„Ich habe“, sagte der kleine Prinz, „die Farbe des Sonnenuntergangs gewonnen.“ Eine Träne lief ihm die Wange herunter, doch das Herz war ihm nun leichter geworden.
„Ich will dich begraben, meine Rose. Du magst vertrocknet sein, doch für mein Herz wird die Liebe zu dir und auch der Schmerz immer lebendig sein. In jedem Sonnenuntergang.“
Als er sich niederbeugte und die Hände um seine verdorrte Blume legte, sah er unter ihren Blüten ein Samenkorn liegen. Da fielen ihm plötzlich seine eigenen Worte wieder ein.
„Es wird dir Schmerz bereiten. Es wird aussehen, als wäre ich tot, und das wird nicht wahr sein …“
Sanft nahm der kleine Prinz das Samenkorn und legte es in seine Handfläche. Da erkannte er plötzlich den ganzen Kosmos in ebendiesem kleinen Samen. Er sah die junge Schönheit ihrer ersten Blüte und ihre vier Dornen, die sie keine Furcht vor den Tigern haben ließ. Er sah das Wasser, mit dem er sie gegossen hatte und den Wandschirm, den er aufgestellt hatte, um sie vor der Zugluft zu schützen. Er sah auch ihre scheue Eitelkeit, ihre belanglosen Worte und die stille Sanftmut ihres Abschiedes. Er sah den Wind und die Schmetterlinge. Er sah ihre Liebe. Und er sah die Traurigkeit und Einsamkeit, in der sie die Sterne und die Sonne geschaut hatte, darin immer sein Lachen hörend und heimlich auf seine Rückkehr hoffend.
„In dir ist kein Tod, kleines Samenkorn, nur Verwandlung. Du konntest diesen Leib da nicht mitnehmen. Er war zu schwer.“
Liebevoll grub er den Samen in den Boden und legte sich zum Schlafen nieder, den Kopf ganz nah an der aufgehäuften Erde. Als er einschlief rollte ihm eine Träne von der Wange und fiel auf den Grund.
Er wachte Tag um Tag und Nacht um Nacht über die Saat und als er sah, wie Spross und Strauch und Knospe langsam erschienen, blühte sein Herz.
Und dann, gerade zur Stunde des Sonnenaufgangs, hatte sich seine Blume neu enthüllt. Sie sagte gähnend:
„Ach ich bin kaum aufgewacht … Ich bitte um Verzeihung … Ich bin noch ganz zerrauft …“
„Wie schön du bist, meine Rose.“, flüsterte der kleine Prinz.
„Du hast mich nicht gegossen.“
„Ich bin dumm gewesen.“, sagte er zu ihr, „Ich habe vergessen dich anzuschauen und einzuatmen und deine belanglosen Worte bitterernst genommen. Ich habe das damals nicht verstehen können. Ich hätte dich nach deinem Tun und nicht nach deinen Worten beurteilen sollen. Du duftetest und glühtest für mich. Ich hätte niemals fliehen sollen. Ich war zu jung, um dich lieben zu können. Ich bin dumm gewesen. Ich bitte dich um Verzeihung.“
„Du hast Recht, mein Prinz.“, antwortete die Blume, „Ich liebte dich. Du hast nichts davon gewusst. Das ist meine Schuld. Es ist ganz unwichtig. Aber du warst ebenso dumm wie ich. Und ich habe dich weggeschickt, wohl wissend, dass ich leiden werde. Und ich habe gelitten.“
„Und ich hätte bei dir sein müssen. Ich habe dich gezähmt und wir haben uns einander vertraut gemacht. Die Zeit, die wir füreinander gegeben haben, macht uns so kostbar. Wir sind zeitlebens für das verantwortlich, was wir uns vertraut gemacht haben. Ich bin für meine Rose verantwortlich. Ich bin für dich verantwortlich. Das hat mir der Fuchs beigebracht.“
„Der Fuchs?“
„Ein wahrer Freund.“
„Das ist schön.“
Der kleine Prinz setzte sich neben seine Rose und gemeinsam betrachteten sie den Sonnenuntergang. Er deutete auf die Sterne und zeigte ihr darin das Lächeln des Fuchses und das Wasser des Wüstenbrunnens. Und sie verstand und langsam konnte auch sie sie sehen.
