Das Tor auf der Lichtung

„Wohin willst du?“
„Ich weiß nicht. Aber ich muss gehen.“
Das Feuer, an dem die zwei Gestalten saßen, flackerte lebendig. Die züngelnden Flammen ließen die alten Bäume am Waldesrand lange Schatten werfen, die zur Stille der Nacht tanzten. Außer ihrem Knistern war nichts zu hören, auch aus dem Dorf, das in der Ferne schlief, trug der Wind keinen Ton heran. Das Feuer wärmte in dieser ersten Herbstnacht. Wie eine wohlige Decke legte sich die sanfte Hitze um den Körper.
Er blickte wie in Trance in das wirbelnde Heiß vor ihm, neben ihm sein alter Freund. Völlige Stille umgab ihn, durchtränkte ihn. Doch etwas rief ihn. Etwas, das aus den Flammen sprach. Etwas, das aus seinem tiefsten Innern sprach und aus der Ferne der Nacht. Nichtssagend erhob er sich von seinem Platz auf dem umgeworfenen Baumstamm. Sein Freund blickte ihn nur fragend an. Er selbst wusste nicht, wohin es ihn zog. Doch er musste gehen. Zum stillen Abschied legte er seinem Gefährten die Hand auf die Schulter und der Zauber alter Zeiten erklang in seinem inneren Ohr wie ein vergessen geglaubtes Lied aus Kindertagen. Ein wehmütiges Lächeln zeichnete sich in seine Wangen, als er die Hand zum Gehen löste und ein letztes Mal in die blauen Augen seines Freundes schaute. Ohne ein Wort zu sprechen, stieg er über den Stamm und schickte seine Blicke in die Weite. Das weiße Glimmen des Mondes hinter dem Horizont malte die Silhouette der fernen Hügel an den Rand der Welt. War es der Mond, der ihn rief? Nein. Er wandte sich zum Rand des Waldes und schritt langsam dahin.
„Wohin willst du?“
Er antwortete nicht.
Die Wärme des Feuers verschwand, als er ins Dickicht des dunklen Forstes eintrat. Zweige brachen unter seinen Füßen, Laub raschelte. Hier war die Nacht nicht friedlich und von sanfter Leere erfüllt wie in der offenen Landschaft. Nein, der Wald lebte. Es war dunkel, schleierhaft, beinahe unheimlich. Knorrige Bäume reckten ihre dünnen Finger gierig in die Schatten und aus der Dunkelheit blitzten unzählige Augen, gelb und neugierig. Die Finsternis war beklemmend und Furch schnitt in seine Seele. Doch er musste weitergehen. So hastete er über Laub und Moos, durch Busch und Geäst, bis er eine kleine Lichtung erreichte. Sie war von wilden Blumen bewachsen und ein warmer Duft schwebte schwer über den Halmen. Hier atmete wieder die Stille. In der Mitte der Lichtung thronte mächtig und in Träumen versunken ein Baum, dessen Stamm so dick war, dass es ohne Zweifel sieben Menschen brauchte, ihn zu umfassen. Ein Raunen ging von ihm aus, als schliefe er. Seine Blätter flüsterten im nächtlichen Wind und funkelten im Sternenlicht.
Plötzlich durchbrach ein Wirbeln die Ruhe, eine mächtige Böe erfüllte die Lichtung. Mit sturmgleichem Flügelschlag erschien eine große Gestalt am Himmel und landete vor dem Suchenden. Er erschrak, doch wusste, dass sie es war, die ihn gerufen hatte. Die geisthafte Erscheinung vor ihm hatte die Gestalt einer mächtigen Eule, doppelt so groß, wie er selbst war. Sein Herz schlug aufgeregt, doch ohne Furcht sah er in das alte, runde Gesicht. Zwei weiße, blinde Augen erwiderten den Blick.
„Ich bin gekommen.“, sagte er.
Die Eule sprach nicht zu ihm, sondern wandte sich langsam ab. Er jedoch wusste, was er tun musste. Er spürte, dass sie ihm gebot, zu folgen. Geruhsam wandelte der Geist über die Lichtung hin zu dem Baum in deren Mitte. Es hatte den Anschein, als schwebte er über die Wildblumen, wobei er seine Flügel, einem Umhang gleich, erhaben hinter sich fallen ließ. Als die Eule am Baum angekommen war, strich sie ihm sanft über die Borke und flüsterte ihm etwas zu in einer Sprache, die der Suchende nicht verstand. Nun schien der Baum zu erwachen. Das Raunen wurde lauter und unter Knarren und Ächzen bewegte er sich, schien sich um sich selbst zu drehen, wobei sich eine Öffnung zeigte, die zuvor verborgen gewesen war, einem Tor gleichend, das wundersame Welten verheißt oder einem Schlund, der in Finsternis zieht. Die Eule stand schweigend neben dem Baum und blickte blind und undurchschaubar auf den Menschen vor ihr.
Er zögerte nur kurz, dann schritt er hindurch. Hinter ihm schloss sich die Öffnung. Im Innern war der Baum hohl. An seinen Innenwänden saßen unzählige Glühwürmchen und tauchten den Raum in zartgelbes Licht. Sein Blick wanderte auf den Boden. Dort lag kreisrund vor ihm eine Quelle klaren Wassers, das silbern zu schimmern schien. Er beugte sich darüber und hielt inne. Aus den Tiefen des Wassers schauten ihn die gütigen blauen Augen seines Freundes an, suchend, fragend, fordernd. Über die glatte Oberfläche gebeugt fiel ihm eine Träne von der Wange und tropfte in die silberne Quelle. Der Träne folgten Hand, Arm und Antlitz, bis er vollkommen in ihr versunken war.
Am Feuer am Waldesrand saß der Zurückgelassene und blickte fragend in die Flammen. Da blitzten plötzlich im Feuer die wohlbekannten grünen Augen seines Freundes auf, der ihn verlassen hatte, wissend, verstehend, sanft. Von Glück erfüllt streckte er die Hand aus, erhob sich und schritt hinein und schmiegte sich in die Glut, keinen Schmerz verspürend, bis er verbrannt war.
Die Welt schlief noch still in den wiegenden Armen der sterbenden Nacht. Am Rand des Waldes glommen die letzten Reste glühender Kohle im ausgebrannten Feuer. Keine lebendige Seele schien hier zu wandern. Nur auf dem höchsten Ast eines mächtigen Baumes saß eine geisterhafte Gestalt und blickte mit ihren weisen Augen, eines grün und eines blau, in die Weite. Und da, als die letzte Glut erloschen war, breitete sie ihre Flügel aus und flog der aufgehenden Sonne entgegen.