Der Weiße Riese

Es war kalt. Die Laternen, die rechts und links die Straße säumten, tauchten die Nacht in ein sanftes orangenes Licht. Leise sangen diese warm glühenden Leuchten ein Lied in die Dunkelheit, das wie ein Nebel in ihr ruhte. Der Wind trug die rotgoldenen Töne durch die stillen Straßen, durch die Blätter der Bäume und durch mein Haar. Fuß vor Fuß setzte ich und glitt über das Kopfsteinpflaster, langsam, um das Licht der Sterne mit jedem Schritt einzuatmen. Zu Tausenden tanzten sie über meinem Haupt in der Finsternis, kühl und alt sogen sie jeden, der einen Blick riskierte, in die Tiefen ferner Welten einer fremden Zeit. Glockenklare Silbertöne tropften um die tiefen melancholischen Akkorde, mit denen der Mond des Himmels Antlitz bemalte. Die Seele der Welt atmete ruhig, als ich geisterhaft fließend durch diese warme, kühle Schattenwelt schwebte.
Ich folgte der Straße bis zu einer Kreuzung, überlegte kurz, nach rechts zu gehen, doch entschied mich dagegen. Geradeaus, voran, weiter. Ich ließ den Blick über den feucht glänzenden Boden gleiten, als ich vorwärts schritt. Ich schaute kurz auf und blieb erschrocken stehen. Die Haare in meinem Nacken stellten sich auf wie vom Frost geblendet. Das Lied der Nacht verstummte. Dort, etwa einhundert Schritte vor mir, nahe der nächsten Kreuzung, stand eine Gestalt. Kräftig, weiß, gesichtslos. Ein Mensch? Ich wusste es nicht. Ein weißer Schatten, aus der Dunkelheit herausgeschnitten. Ruhig und bedrohlich stand er dort, dieser weiße, kalte Riese. Ich konnte nicht weiter, starrte ihn an, solange ich konnte. Aber schon bald ging es nicht mehr. Mein Blick zerrte mich fort. Ich ging nach rechts, schneller als zuvor. Atmete nicht mehr das Sternenlicht. Ruhig! Bleib ruhig! Ich tat einen tiefen Atemzug, doch schon im nächsten Moment kam ein Schauer über meine Kopfhaut, stechend wie tausend Nadeln. Ich drehte mich um, sah hinter mich. Niemand. Achtsam ging ich weiter, schaute mich dann und wann um, doch ich war allein. Trotzdem konnte ich seine augenlosen Blicke spüren, fühlte seinen kalten, schwarzen Atem auf meiner Haut.
Einst war ich der König dieser nächtlichen Straßen gewesen, der anmutige Adler, der sich von wärmenden Aufwinden tragen lässt, der Elefant, der sanft und stark und ohne Furcht durch die Savanne streift. Doch nun waren meine Flügel gestutzt und meine schützende Haut geschält: mit einem einzigen Streich des scharfen Messers der Angst.
Ich ging weiter, eilend, ohne zu atmen. Geräuschlos verschlangen meine Schritte die Straße. Ein Blick zurück: niemand. Ein Blick nach links zu den Eingangstüren der Reihenhäuser: ein weißer Schatten. Ich wendete mich ab, mein Atem stockte, und bog nach rechts in eine Straße ein. Es war eine Querstraße, fast nie befahren, bloß Garagen und Eingänge zu den Gärten und doch der schnellste Weg nach Hause. Ich hetzte hindurch, doch wagte nicht, zurückzuschauen. Ich wusste, dass er da war. Vor mir, hinter mir. Ich spürte seine tausend Augen aus den Büschen, zwischen den Gittern der quietschenden Gartentore, selbst den Sternen konnte ich kein Vertrauen mehr schenken. Ich hastete, bog nach rechts in die Hauptstraße, eilte, rannte. Einmal noch musste ich abbiegen, bevor ich meine Straße erreichte. Nein. Am Baum gegenüber unseres Hauses – ein weißer Schemen. Ich blieb stehen, rührte mich nicht, spürte die Furcht in mir. Doch der Umriss bewegte sich nicht. So schritt ich langsam vorwärts, hoffte. Hoffte. Die Nacht war erfüllt vom pochenden Schlag meines Herzens. Ich hatte fast das Haus erreicht, da: die Erleichterung. Nur eine Mülltonne. Als ich in die Einfahrt unseres Heims schritt, blickte ich zurück zum Ende der Straße. Seine kalten Augen starrten mich ausdruckslos an. Der Mann, der Schatten, der weiße Riese stand einfach da. Ruhig, groß, bedrohlich.
Der Bewegungsmelder der Außenbeleuchtung reagierte und ich holte meinen Schlüssel hervor. Ich erklomm die Stufen zur Eingangstür und steckte den Schlüssel ins Schloss. Gleich war ich in Sicherheit und der weiße Schatten würde mich nur noch in meinen Träumen verfolgen können. Ich drehte den Schlüssel herum, öffnete die Tür, trat ein und fiel in eine leere Finsternis.
Wo war ich? Ich spürte meinen Körper nicht. Jede noch so kleine Bewegung war unmöglich, ich war starr, gelähmt, gefesselt von Dunkelheit.
Da, in der Ferne. Ein Licht. War ich gestorben? War das der Tod? Da war ein Licht. Nein, kein Licht. Er. Der weiße Schatten. Ich fröstelte. Kalte Augen. Langsam öffnete er den Mund. Doch verließen die Gestalt keine Worte. Nur ein stechender, ein schneidend heller Ton. Ein Kreischen spaltete die Finsternis. Die Dunkelheit war strahlend hell. Blendete gleißend.
Die Nacht lag ruhig da und sang ihr altes Lied. Die Seele der Welt atmete und war ganz und gar vollkommen wie zuvor.
Ich war vergessen.